Sonne und Mond
«Ich bin der Mond», sagte der neue Planet,
der den dritten Planeten auf seiner Bahn rund um die Sonne umkreiste.
«Und dank dir, Sonne, leuchte ich jetzt mit deinem Licht.»
Die Sonne verriet dem Mond nicht,
dass sie ihr ewiges Leben geopfert hatte,
um nicht mehr alleine zu sein.
«Sonne?»
«Ja, Mond?»
«Das Licht einer Kerze verliert nicht an Helligkeit,
wenn es andere Kerzen ansteckt.»
Die Sonne staunte.
Niemand hatte je mit solcher Zärtlichkeit,
solcher Wärme zu ihr gesprochen.
Und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte
die Sonne sich nicht nur nicht einsam,
sondern sogar geliebt.
Der Mond bemerkte,
wie sich die Temperatur der Sonne veränderte,
und wusste, dass er dieses seltsame,
herrliche Gefühl in ihr hervorgerufen hatte.
«Ich hatte grosse Angst,
für immer allein zu sein, Mond,»
sagte die Sonne.
«Jetzt durch dich, weiss ich, dass ich nie mehr einsam sein werde.»
Die Sonne versuchte, sich dem Mond zu nähern.
«Nein!» rief der Mond. «Tu das nicht Sonne!»
«Warum nicht?» fragte die Sonne.
«Ist etwas falsch daran, wenn ich dich berühren will?»
«Du weisst es vielleicht nicht,
aber deine Wärme ist so stark,
dass ich schmelze, wenn du mir zu nahekommst.
Ausserdem würdest du all die
wunderbaren Planeten zerstören,
die dich umringen und dir Gesellschaft leisten.
Vor allem sieh dir an,
was du für den Planeten getan hast,
um den ich kreise.
Ist dir an ihm noch nichts Besonderes aufgefallen?»
Die Sonne starrte den Planeten an. Er war strahlend blau.
«Warum hat er diese Farbe?» fragte die Sonne.
«Liebe Sonne, du hast so viel von dir selbst gegeben,
um uns zu erschaffen,
dass auf diesem einen Planeten
all die richtigen Bedingungen zusammengekommen sind,
um das grösste aller Wunder hervorzubringen:
Das Wunder des Lebens»
«Das heisst, ich werde dich niemals berühren können?»
fragte die Sonne.
«Ich wünschte, meine liebe Sonne, ich könnte dir sagen,
dass das möglich ist,
dass der Schmerz darüber,
nicht ganz nah beieinander sein zu können,
mit der Zeit vergehen wird,
aber ich weiss, das wird nicht so sein.
Er wird uns für den Rest
unseres Lebens begleiten
und uns daran erinnern,
wie stark wahre Liebe ist.»
«Liebe?» fragte die Sonne.
Der Mond sah die Sonne an: «Sonne, ich liebe dich so sehr,
dass ich, wenn ich auf
der anderen Seite der Erde – des blauen Planeten –
bin und dich nicht sehen kann,
die Augen schliesse und von dir träume.
Und wenn ich dank
deines starken Lichts wieder scheine,
fühlt deine Wärme sich an
wie eine zärtliche Hand auf meiner Brust.»
Ein Schauder überlief die Sonne, und sie erkannte,
dass dieses neue Gefühl, das sie empfand,
ihr Augenblicke wahrer Erleuchtung schenken würde,
Augenblicke der Freude - und des Leids.
«Sonne!»
«Ja, Mond?»
«Kannst du ein Geheimnis bewahren?»
«Ja?»
Der Mond blickte die Sonne erneut voll Liebe an.
«Ich heisse jetzt Mond», sagte er.
«Eigentlich bin ich der Komet,
der dich vor vielen Jahren aufgefordert hat,
Planeten zu erschaffen,
damit du nicht länger einsam bist.
Und als ich sah, dass du auf die Ewigkeit verzichtet hast,
um nie mehr allein zu sein, habe ich mich in dich verliebt.
Und ich habe mir geschworen, das nächste Mal,
wenn ich vorbeikommen würde, in deiner Nähe zu bleiben,
damit wir für den Rest unseres Lebens
zusammen sein können. Und weisst du noch etwas, Sonne?»
«Was?»
«Auch ich habe auf die Ewigkeit verzichtet,
um in deiner Nähe zu sein.
Und ich weiss, ich werde es nie bereuen.»
Zum ersten Mal in ihrem Leben vergoss
die Sonne Tropfen ihrer Glut, wie Tränen.
«Danke, Mond. Ich werde dich immer lieben,
genauso sehr wie du mich.»
«Ich weiss», sagte der Mond. Er sah traurig aus.
«Wir werden nur selten zusammen sein können»,
sagte er, »und wenn deine Wärme
mich am Leben halten wird,
muss ich doch dicht
bei der Erde bleiben, um den Sinn des Lebens
und der Liebe nicht zu vergessen.
Ich werde auf die wunderbare Welt blicken,
die du geschaffen hast, und dir immer davon erzählen.»
Die Sonne war glücklich, auch ein bisschen traurig.
«Ich werde stets da sein, Mond, und auf dich warten.»
Sonnenfinsternis aus der Sicht des Menschen:
«Ich versteh das nicht:
Sonne und Mond ein Liebespaar?»
«Es ist Zeit.» - «Zeit wofür?» «Zeit für die Antwort!
Sieh hinauf zum Himmel.»
Der Mond hatte begonnen,
sich langsam über die Sonne zu schieben.
Ein paar Minuten lang bewegte er sich behutsam weiter,
bis er sie ganz bedeckte.
Der Tag wurde zur Nacht,
und man sah nur noch den strahlenden Umriss der Sonne,
der den Mond mit einem sanften Funkeln umgab.
Beide standen gleich gross am Himmel.
«Die Sonne und der Mond haben einander umarmt,
und wenn ihre Vereinigung auch nur
ein paar Minuten dauerte, wird dies doch reichen,
um ihre Liebe weiter wachsen zu lassen,
bis sie wieder zusammen sein können
– wahrscheinlich in zwanzig oder dreissig Jahren.
Jetzt lieben sie sich.
Während der Sonnenfinsternis können
Sonne und Mond zusammen sein.
Wir werden niemals wissen,
welche Liebesworte sie einander zuflüstern.
Wir sollten nie vergessen,
dass es während der Dauer
eines Menschenlebens nur wenige solche Momente gibt
- Sie sind einzigartig.
Sie finden statt, wenn Sonne und Mond sich
in Liebe umarmen und all die Wunder vergessen,
die dadurch entstanden sind,
dass sie auf die Ewigkeit verzichtet haben,
damit wir all das geniessen können,
was das Leben für uns bereithält.
Diese magischen Augenblicke sollten wir immer achten.»
Geschichte von Sergio Bambaren
aus «Die Zeit der Sternschnuppen»
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